Bundeskanzlerin Angela Merkel hat, etwas verklausuliert, erstmals Zweifel daran geäußert, dass die EU in ihrer derzeitigen Form überleben wird. Offenbar sind die Divergenzen wegen der Flüchtlingskrise kaum noch zu überbrücken.
Der EU-Gipfel mit der Türkei hat eine interessante Einschätzung zu Tage gefördert: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat erstmals nicht bedingungslos signalisiert, dass die EU in ihrer derzeitigen Form noch eine Zukunft hat. Der Anlass ist die Spaltung der EU in der Flüchtlingsfrage. Zum Vorbereitungstreffen zum Gipfel mit der Türkei waren nur acht der 28 EU-Staaten erschienen.
Unmittelbar vor dem Treffen hatte Frankreich mitgeteilt, dass man in der Aufnahme von Flüchtlingen an der Grenze der Belastbarkeit angekommen sei. Trotz des Treffens mit der Türkei ist es alles andere als sicher, welche Staaten sich an der Finanzspritze von drei Milliarden Euro an die Türkei beteiligen werden. Die EU-interne Verteilung dieses Betrags ist noch nicht gesichert.
Auf die Frage, ob das Treffen von acht von der Flüchtlingskrise besonders betroffenen EU-Staaten ein Schritt hin zu einem Kerneuropa sei, sagte Merkel: „Im Augenblick denke ich noch nicht so weit.“
Diese Antwort ist im Diplomatendeutsch ein ziemlich heftiger Zweifel. Denn in der Regel werden politisch-strategische Fragen nicht so beantwortet, dass sie die Möglichkeit eines grundsätzlichen Scheiterns offenlassen. Wäre Merkel davon überzeugt, dass es nicht zu einer Spaltung kommen wird, hätte sie gesagt: „Ich weiß, dass wir vor schwierigen Verhandlungen stehen, aber die EU hat es immer noch geschafft, einen Kompromiss zu finden.“
Natürlich sind diese Zweifel auch eine versteckte Drohung an die Osteuropäer: Sie würden als Nettoempfänger enorme Nachteile erfahren, wenn sie nicht mehr volle Mitglieder der EU sind. Offenbar spekuliert Merkel damit, über diese Drohung Druck auf die Osteuropäer aufzubauen. Allerdings stellt sich hier ein grundsätzliches Problem:
Wenn diese Staaten nicht von sich aus aus der EU austreten, müsste die EU die Staaten aus der EU werfen. Dies ist nur im Fall von schweren Pflichtverletzungen möglich. Da hat vor allem Deutschland schlechte Karten: Merkel hat quasi im Alleingang Dublin außer Kraft gesetzt und damit geltendes europäisches Recht gebrochen.
Auch zu Schengen äußerte sich die Kanzlerin auffallend vage: „Ich finde, dass das Schengen-System eine wichtige Säule der EU ist“, sagte Merkel und verwies auch auf den wirtschaftlichen Nutzen eines unkomplizierten Warenverkehrs. Diesen Nutzen hätten alle auf dem EU-Türkei-Gipfel betont: „Dieser Vorteil, für den sollte man schon einiges einsetzen.“
Auch hier wäre die diplomatisch unzweideutige Antwort gewesen: „Schengen ist ein fixer Bestandteil des EU-Konzepts. Trotz der aktuellen Schwierigkeiten werden wir an der Freizügigkeit in der EU festhalten.
Merkel versuchte, die Spaltung mit dem Verweis auf technokratische Lösungen herunterzuspielen: Es gehe jetzt darum, die Beschlüsse wie sichere Außengrenzen oder die EU-interne Verteilung von Flüchtlingen auch umzusetzen.
Das Vortreffen etwa mit den skandinavischen Ländern und den Benelux-Staaten habe dazu gedient, bei der Umsetzung mehr Druck zu machen. „Die Gruppe war nicht abschließend“, betonte Merkel. „Wir haben von einigen Ländern heute gehört, dass sie sich sehr gut vorstellen könnten, bei einem solchen Prozess auch mitzumachen.“ Auch Frankreich sei eingebunden.
Vor allem die Osteuropäer sind jedoch sicher nicht bereit, sich erneut einer Anweisung aus Berlin „ex post“ zu beugen. Diese Staaten haben sich auf den Standpunkt gestellt, dass Merkels Öffnung der Grenzen nicht mit ihnen abgesprochen war und daher Deutschland auch die Folgen dieser Aussage zu tragen habe.
Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem hatte vor dem Gipfel gesagt, dass die EU einen radikalen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik brauche, um den eigenen Wohlstand nicht zu gefährden.
EU-Präsident Juncker hatte gesagt, dass auch der Euro scheitern werde, wenn Schengen nicht mehr existiert.