Türkei. Im Krieg gegen die IS-Milizen und gegen die PKK zerreibt sich der Präsident, der nur noch Feinde wittert.

Istanbul. Ein tödlicher Selbstmordanschlag in Istanbul, heftige Gefechte im Südosten des Landes – in der Türkei brennt es derzeit an allen Ecken und Enden. Und es sieht nicht danach aus, als ob das Land bald zur Ruhe kommen würde. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Anhänger haben eine einfache Erklärung dafür. Feinde im Inneren und Äußeren wollten die Türkei schwächen, knechten und teilen, sagen sie.

Nach dem Anschlag von Istanbul deutete Premier Ahmet Davutoğlu an, dass seine Regierung nicht nur den Islamischen Staat (IS) für die Gewalttat verantwortlich macht, bei der zehn deutsche Touristen gestorben sind. Jemand habe den IS als Subunternehmer benutzt, sagte Davutoğlu. Eine regierungsnahe Zeitung nannte Russland, Syrien und den Iran als die eigentlichen Schuldigen.

Tatsächlich steht die Türkei einer ganzen Reihe von Problemen gegenüber. Zumindest teilweise trägt die politische Führung jedoch eine Mitverantwortung für die krisenhafte Anhäufung von Quellen der Destabilisierung, die das Land in noch schwerere Turbulenzen stürzen dürften als bisher schon. Zuallererst steht der Krieg im Nachbarstaat Syrien. Die Regierung in Ankara strebt einen Sturz des Assad-Regimes in Damaskus an und will aus Syrien einen möglichst von Sunniten regierten Staat machen. Um dieses Ziel zu erreichen, unterstützt Ankara die syrische Opposition politisch und auch militärisch.

Assads politische Langlebigkeit, der Vormarsch des IS und das Engagement Russlands haben der Türkei bisher jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Fast fünf Jahre nach Ausbruch der Unruhen gegen Assad sitzt der Diktator immer noch im Sattel. Gleichzeitig ist die lange Landgrenze zwischen der Türkei und Syrien zu einem Einfallstor für Flüchtlinge und IS-Extremisten geworden, deren Zustrom kaum zu kontrollieren ist. Die Integration von 2,2 Millionen syrischen Flüchtlingen hat noch nicht einmal begonnen.

Auch außerhalb Syriens hat die türkische Nahost-Politik Schiffbruch erlitten. Die Beziehungen zum Irak, Iran, zu Ägypten und Israel sind empfindlich gestört. Seit zwei Monaten kommt die Dauerkrise mit Assad-Partner Russland wegen des Abschusses des russischen Kampfjets an der syrischen Grenze und wegen der grundsätzlichen türkisch-russischen Interessenkonflikte im Syrien-Krieg noch hinzu.

Krieg in den Kurdengebieten

Im Norden Syriens tut sich aus Sicht Ankaras eine weitere Bedrohungsquelle auf. Die syrische Kurdengruppe Partei der Demokratischen Union (PYD), ein Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), hat entlang der Grenze einen langen Gebietsstreifen erobert, in dem kurdische Autonomie herrscht. Im Kampf gegen den IS in der Gegend wird die PYD zum Entsetzen der Türkei von den USA unterstützt.

Die Erfolge in Syrien haben die PKK dazu ermuntert, auch in der Türkei wieder offensiver zu werden. Noch vor einem Jahr gehörte der Friedensprozess mit den Kurden zu einer Grundposition Erdoğans. Doch das dadurch ausgelöste Misstrauen türkischer Nationalisten und Stimmenverluste für die Erdoğan-Partei AKP bei Wahlen im Juni veranlassten den Präsidenten zu einer radikalen Kursänderung. Er erklärte den Friedensprozess für vorerst gescheitert und ließ die Angriffe auf die PKK verstärken, die sich inzwischen zu einem neuen Krieg gegen die PKK ausgeweitet hatten.

Im „Presse“-Interview in seinem Versteck in den Quandil-Bergen im Nordirak kündigt PKK-Führer Cemil Bayık erbitterten Widerstand an und droht mit einem Guerillakrieg in den türkischen Städten: „Wir lassen uns nicht wie ein Tier zur Schlachtbank führen.“ Er zieht einen Vergleich zwischen Erdoğan und Assad, fordert ein Ende der Nato-Militärhilfe für Ankara und einen verstärkten Druck der EU auf die Türkei, um den Krieg in den Kurdengebieten im Südosten des Landes zu beenden.

So gespalten wie nie zuvor

Selbst ein Land mit einem stabilen innenpolitischen Konsens hätte erhebliche Schwierigkeiten, mit diesem Blutvergießen fertigzuwerden. Doch die Türkei ist nicht geeint, sie ist so tief gespalten wie nie zuvor. Erdoğan verteufelt alle Kritiker als Verräter und lässt unliebsame Journalisten einsperren.

Die AKP konnte bei den Wahlen im November zwar fast 50 Prozent der Türken hinter sich vereinen, doch verhalten sich Präsident und Regierung so, als seien sie lediglich die Vertreter dieser einen Hälfte der Wählerschaft, nicht des ganzen Landes. Justiz und Polizei verstehen sich inzwischen nicht mehr als Garanten der staatlichen Ordnung, sondern als Verteidiger der AKP-Regierung.

Tiefe Gräben verlaufen aber nicht nur zwischen Erdoğan-Anhängern und -Gegnern. Viele Türken – bei Weitem nicht nur jene in der AKP – misstrauen den Kurden, viele islamisch-konservative Türken lehnen die Lebensweise ihrer laizistischen Mitbürger ab. Umgekehrt betrachten diese in den Städten die frommen Anatolier wie Erdoğan als ungebildetes Pack.

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AUF EINEN BLICK

Ära Erdoğan. Der Ex-Bürgermeister von Istanbul bestimmt seit dem Sieg seiner islamisch-konservativen AKP, 2002, die Politik in der Türkei. Seit 2003 hat er als Ministerpräsident agiert, seit 2014 amtiert er als Präsident, der das Land in eine Präsidialrepublik verwandeln will. Unter seiner Führung verzettelte sich die Türkei in einen Mehrfrontenkrieg gegen die IS-Milizen im Irak und in Syrien auf der einen und gegen die Kurdenmilizen der PKK im Südosten der Türkei auf der anderen Seite. Im Syrien-Krieg unterstützt die Türkei die sunnitischen Rebellengruppen gegen das Assad-Regime. Der Abschuss eines russischen Kampfjets provozierte kürzlich eine schwere Krise mit Moskau.

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